Das Virus des Antisemitismus

Die heutigen Verschwörungsmythen nähren den Antisemitismus auf globaler Ebene mit noch größerer Inbrunst

Vor 76 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee befreit. Es ist zu einem unübersehbaren Sinnbild für den unglaublichen Horror geworden, den jüdische Menschen (und als solche bezeichnete Menschen) — neben anderen unterdrückten Gruppen in einem globalen Kontext — ertragen mussten, als Deutschland und die meisten seiner Verbündeten versuchten, jede Spur jüdischer Kultur vom Planeten zu löschen.

Während dieser Zeit wandte der Rest der Welt den jüdischen Flüchtlingen weitgehend den Rücken zu und vernachlässigte die unmittelbaren Gefahren, denen sie ausgesetzt waren. In der Folge dieses Aktes des Völkermordes wurde 1948 der lange vorgedachte Staat Israel als ein fraglos notwendiger sicherer Raum für alle jüdischen Menschen gegründet. Ein Staat, der in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens von progressiven und sozialistischen Idealen geprägt war.

Eine momentane sentimentale Identifikation mit den Opfern des Holocausts ist nicht genug

Gedenktage wie der 27. Januar sind ein Symbol, um an vergangene Ereignisse zu erinnern und uns deren Bezug zur Gegenwart vor Augen zu führen. Dennoch wird es nicht mehr als ein symbolischer Moment sein, wenn sich unsere Trauer auf ein schlichtes Ritual beschränkt. Wir müssen uns jeden Tag mit dem zunehmenden Antisemitismus in all seinen aktuellen Formen auseinandersetzen. Die jüngste Darstellung bösartiger Shoah-Referenzen war beim Putschversuch in Washington, bei dem ein Aufständischer Kleidung mit der Aufschrift „Lager Auschwitz – Arbeit macht frei“ trug, und schockierte die Menschen weltweit.

Diese aktuellen Vorfälle sind eine deutliche Erinnerung an das, was schon immer da war und was Jüdinnen und Juden täglich ertragen müssen. Es muss noch darauf hingewiesen werden, dass Antisemitismus neben der klaren Bedrohung für jüdische Menschen auch eine Gefahr für jeden anderen Menschen darstellt. Der von antisemitischen Verschwörungsideologien getriebene Hass, wie er etwa um Donald Trump oder die Coronavirus-Pandemie entsteht, integriert jeden vermeintlichen Feind in ein verzerrtes und wahnhaftes Weltbild. Häufige Feindbilder sind Minderheiten, politische Gegner, Vertreter der liberalen Zivilgesellschaft, die Medienlandschaft, die Wissenschaft, Medizin oder die Wirtschaft. In einem weiteren Sinne muss Antisemitismus als eine toxische Denkweise verstanden werden, wie die Realität wahrgenommen werden soll. Es ist eine vereinfachte, dualistische Weltsicht von „diabolischen Zusammenhängen zwischen allem und jedem, in denen geheimnisvolle Gruppen das gewöhnliche, unschuldige Individuum kontrollieren und manipulieren“.

Der entscheidende Unterschied zwischen einem Verschwörungsmythos und einer kritischen Theorie ist, dass der Mythos weder einer faktenbasierten Wissenschaft noch Untersuchungsstandards standhalten kann. Daher ist es ein inkonsistentes Glaubenssystem, das oft mit so etwas wie einer kollektiven Schizophrenie verglichen wird, bei der jeder Anflug von Bestätigung angenommen wird, während jede Diskrepanz abgestoßen wird. Gleichzeitig argumentierten andere Kommentatoren, wie Jean-Paul Sartre oder Hannah Arendt, dass ein großer Teil der Antisemiten sich ihrer schwachen und zusammenhanglosen Weltanschauung sehr wohl bewusst ist, sich aber dazu entschließt, die unbegründete Doktrin zu übernehmen, da sie ihren Interessen dient. Obwohl sich die Ausdrucksformen des Antisemitismus in verschiedenen Phasen der Geschichte und in unterschiedlichen lokalen Kontexten verändert haben, bleiben die wesentlichen Überzeugungen dieselben.

In einer Welt, in der das Wissen über den Holocaust aus erster Hand verschwindet, weil die verbleibenden Augenzeugen immer weniger werden, nehmen Holocaust-Leugner*innen Gedenkstätten ins Visier. Solche ignoranten Personen machen lustige Selfies an Holocaust-Gedenkstätten oder haben erst kürzlich Schlittenfahrten im Konzentrationslager Buchenwald unternommen. In diesem Kontext ist die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) eine Vereinigung, die sich der Bedeutung des „Nie wieder“ widmet, indem sie Bildung, Forschung und Gedenken stärkt. Um die Agenda voranzutreiben, hat die IHRA eine einfache, aber pragmatische Definition von Antisemitismus veröffentlicht:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegen sie äußern kann. Rhetorische und physische Manifestationen von Antisemitismus richten sich gegen jüdische oder nicht-jüdische Personen und/oder deren Eigentum, gegen Institutionen der jüdischen Gemeinschaft und religiöse Einrichtungen.“

Es ist einer der bisher ausführlichsten Ansätze, um dieses komplexe Phänomen anzugehen. Während viele Nichtregierungsorganisationen, Stiftungen und Staaten diese Definition offiziell als ersten Schritt zur Überwindung von Antisemitismus übernommen haben, lehnen einige zivilgesellschaftliche und akademische Stimmen — sowohl jüdische als auch nicht-jüdische — diese Definition ab. Sie argumentieren, dass sie instrumentalisiert und benutzt werden könnte, um jegliche Kritik an der israelischen Politik zu diskreditieren.

Der Konfliktpunkt, der die tief gespaltene Linke widerspiegelt

Wenn es nicht durch übliche Sätze wie „es ist ein sehr sensibles Thema“ vermieden wird, landet der Diskurs über jüdisches Leben fast unvermeidlich auf dem ermüdenden heißen Stuhl, wobei Diskussionen in die falsche Dichotomie von „pro“ oder „gegen“ Israel fallen. Es scheint ein sofortiger Reflex vieler Menschen zu sein, Kritik an der israelischen Regierung im Zusammenhang mit jüdischem Leben vorzubringen, als ob diese beiden immer das Gleiche wären. In die Situation gebracht zu werden, die Handlungen der israelischen Politik zu rechtfertigen oder zu erklären, und mit Lösungen für komplexe Situationen aufzukommen, ist eine Situation, die jüdische Menschen nur zu gut kennen.

Neuralgische Triggerwörter wie Apartheid, Hamas, Nakba oder BDS werden in einem Akt dramaturgischer Selbstbestätigung benutzt. Eine offenere, nuanciertere und differenziertere Debatte, die sich auf die Komplexität einlässt, scheint selten und fast unmöglich. Doch oft verrät die hektische Fixierung auf die Kritik am israelischen Regierungshandeln, das ein vergleichsweise kleines Land auf der Weltbühne repräsentiert, mehr über den Kommentator als über den Adressaten. Während in Deutschland z.B. das Wort „israelkritisch“ oder „israelfeindlich“ offiziell in den Duden aufgenommen wurde, ist weder ein „türkeikritisch“, noch ein „chinakritisch“ oder ein „russlandfeindlich“ zu finden. Als sogenannte Israelkritik getarnter Antisemitismus scheint häufig eine Strategie zu sein, um nicht als solcher bezeichnet zu werden.

Die aktuelle Regierung Israels ist in der Tat patriarchalisch, und das politische Spektrum hat sich in den letzten Jahrzehnten immer weiter nach rechts verschoben. Trotz starker Proteste gegen die führende Partei Likud, scheinen die israelischen linken, grünen und progressiven Bewegungen am Rande und zerschlagen. Doch die Existenz des Staates Israel ist nicht verhandelbar und alle seine Bürger*innen müssen das Recht auf Selbstbestimmung haben. Anstatt in grundsätzliche Ablehnung zu verfallen, wäre DiEM25 gut beraten, Verbindungen zu knüpfen und sich mit den progressiven Umwelt- und Menschenrechtsbewegungen Israels oder Parteien wie Meretz zusammenzuschließen.

DiEM25 muss aufstehen und eine starke Position gegen jede Form von Antisemitismus einnehmen, und dabei ein inklusiver Schutzraum für jüdische Menschen sein, was leider nicht die Norm in antikapitalistischen Kreisen zu sein scheint. Als eine paneuropäische Bewegung, die verschiedene Kontexte umfasst, muss DiEM25 ein gemeinsames Verständnis von Antisemitismus finden. Die Annahme einer angemessenen Definition, wie sie von der IHRA bereitgestellt wird, ist ein erster Schritt. Da eine Reihe von Akademiker*innen — z.B. Mitglieder des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin –, die genau diese Definition ablehnen, sich darauf vorbereiten, ihre eigene Version zu veröffentlichen, die offenbar die genannten Vorbehalte berücksichtigen wird, werden wir sehen, wohin uns die Debatte führen wird. Ob sie eine metaphorische Brücke zwischen der tief gespaltenen Linken zu bauen vermag, muss die Zeit zeigen.

Die Analysen einer antisemitischen Denkweise lehren uns eine Reihe von Dingen. Eines davon ist, dualistische Wahrnehmungen zu durchbrechen. In dieser Hinsicht muss DiEM25 die eigenen Handlungen klug bedenken und einen kritisch nuancierten Ansatz wählen. Frühere populistische Kommentare und voreingenommene Positionen zu komplexen Situationen von einigen prominenten Persönlichkeiten in DiEM25 werden die Bewegung spalten und jüdische Menschen davon ausschließen, die wichtige Aufgabe der Bewegung zu unterstützen. Stereotypen an allen Fronten zu brechen und die große Vielfalt Israels und der jüdischen Kultur anzuerkennen, ist eine wichtige Lektion. Der Philosoph und Rabbiner Jonathan Sacks, der erst vor zwei Monaten verstorben ist, hat einmal darauf hingewiesen:

„Antisemitismus ist kein einheitliches Phänomen, keine einheitliche Überzeugung oder Ideologie. Jüdinnen und Juden wurden gehasst, weil sie reich waren und weil sie arm waren; weil sie Kapitalisten waren und weil sie Kommunisten waren; weil sie an Tradition glaubten und weil sie wurzellose Kosmopoliten waren; weil sie sich zurückhielten und weil sie überall eindrangen. Der Antisemitismus ist kein Glaube, sondern ein Virus. Der menschliche Körper hat ein unglaublich ausgeklügeltes Immunsystem, das Abwehrkräfte gegen Viren entwickelt. Es wird jedoch durchdrungen, weil Viren mutieren. Antisemitismus mutiert.“

Er kommt weiter zu dem Schluss, dass Antisemitismus niemals nur ein auf jüdische Menschen beschränkter Hass ist. Er ist eine übergreifende tiefe Feindseligkeit gegen die Vielfalt der Menschheit selbst. Es muss unsere Pflicht sein, diese Vielfalt zu schützen!

Foto-Quellen: Alexandra Tsuneta auf Medium und Slgkgc auf Flickr.

Die hier geäußerten Ansichten und Meinungen sind die des Autors und spiegeln nicht notwendigerweise die offizielle Politik oder Haltung von DiEM25 wider.

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